Die Gilde
Diese Tür kannte er. Erst gestern hatte er hier gestanden, frohen Mutes, und um Einlass gebeten. Die Abfuhr, die er darauf erhalten hatte, war zwar nicht unfreundlich, aber dennoch eindeutig gewesen: „Wir nehmen keine weiteren Magier auf“, hatte es geheissen. Er musste lächeln. Anscheinend hatte sich da jemand getäuscht. Randjir, die Wundertüte… Nun, wo er wusste, dass er gleich über die Schwelle treten würde, schaute er sich die Tür genauer an. Offensichtlich hatten sich einige mächtige Bäume zu ihrer Herstellung dran glauben müssen: Sie war knapp vier Schritte breit und ebenso hoch, dabei bestand sie aus einem einzigen Flügel. Wenn sie genauso massiv war, wie sie aussah, wären die Kräfte eines Golems notwendig, um sie zu bewegen. Aber er hatte so eine Ahnung, dass es andere Mittel als den Einsatz von purer Kraft gab, sie zu öffnen. Sie besass nämlich auch keinen Knauf oder eine Klinke, die man hätte drücken können. Auf Augenhöhe war eine Klappe mittig eingelassen. Diese hatte sich gestern auf sein Klopfen hin geöffnet, und ein scharfnasiger Zauberer mit glatten, langen schwarzen Haaren hatte höflich seine Anfrage entgegen genommen, nur um sie ebenso schnell wieder zu schliessen, nachdem er sein Ansinnen abgewiesen hatte.
Beiderseits der Klappe prangte die Rune der Dunkelheit, eingebrannt in das alte, braune Holz. Das eindrucksvollste aber war das Gemälde im oberen Bereich der Tür. Es zeigte einen schwarz gekleideten Magier, der breitbeinig mit über dem Kopf erhobenen Stab und wehendem Mantel unter einem Torbogen stand. Sein Zauberstab war eigentlich schwarz, dabei aber mit unzähligen nachtblauen Runen verziert. Wenn er probierte, die Runen genauer in Augenschein zu nehmen, schienen sie seinen Blicken auszuweichen, glitten unmerklich zur Seite, irgendwie aus dem wahrnehmbaren Bereich, als wenn sie sich weigerten, gelesen zu werden. Die zweite Auffälligkeit des schwarzen Abbildes waren die Augen, die aus dem düsteren Gesicht, das nur aus spitzen Knochen bestehen zu schien, hervorblitzten. Sie vermittelten den Eindruck, als loderte hinter ihnen ein silbernes Feuer, welches es einem unmöglich machte, den silbrig flammenden Blick lange zu erwidern. Er hatte bereits ähnliche Abbildungen dieses schwarzen Zauberers gesehen, aber keine war so ehrfurchtgebietend gewesen, wie die, die jetzt auf ihn hernieder blickte, und er wusste, wen sie darstellte. Es war Vanderon, der erste, der sich offen zu Currulum bekannt hatte und von dem es hiess, er hätte Terajas Jünger mit der Hilfe seiner Anhängerschaft vernichtet, wenn ihm nicht das Schicksal in Form eines dritten, wohlbekannten Gottes dazwischen gekommen wäre. Bei seinem Ableben, so die Legende, sei seine Seele in unzählige Splitter zerbrochen, die in seine Anhänger, oder besser gesagt, Currulums Anhänger gefahren seien und deren Wirken seitdem bei diesen durch die Rune der Dunkelheit sichtbar sei. Er gab zwar nichts auf alte Geschichten, die man sich abends am Lagerfeuer erzählte, aber seine Hand suchte unwillkürlich seine rechte Brust, auf der immer noch seine eigene Rune prangte. Randjir, der glühendste Anhänger der Dunkelheit…
Kopfschüttelnd liess er die Hand wieder sinken und trat auf die Tür zu. Er wollte gerade klopfen, als sie sich ächzend in Bewegung setzte und langsam nach innen aufschwang. In dem Spalt, der sich auftat, erblickte er den Zauberer, mit dem er schon bei seinem letzten Besuch durch die Klappe Bekanntschaft gemacht hatte. Der schwarzer Spitzbart begrüsste ihn, und nach einer auffordernden Handbewegung übertrat er die Schwelle.
„Ich dachte schon, Vanderon hätte dich hypnotisiert oder gar paralysiert, und wir hätten dich reinschleppen müssen. Mein Name ist Mantai. Aber ein ausgiebiges Kennenlernen verschieben wir lieber auf später, wir wollen die Anderen nicht unnötig noch länger warten lassen.“ Sie befanden sich in einem düsteren Durchgang, der in Höhe und Breite ziemlich exakt den Ausmassen der überdimensionierten Eingangstür entsprach. Decke und Wände bestanden aus grossen dunkelgrauen Steinen, bei denen man sich nicht die Umstände gemacht hatte, ihre Oberfläche zu glätten, so dass der Eindruck entstand, man befände sich in einem aus dem Fels gehauenen Gang. Das Ächzen der Tür in seinem Rücken ging unvermittelt fort, aber da es langsam dunkler wurde, schien sie sich bereits wieder zu schliessen. Mit zunehmender Dunkelheit verschwand Mantai, was vor allem daran lag, dass er komplett in schwarz gekleidet war.
„Deinen Stab solltest du hier abstellen. Wir sehen es nicht gerne, wenn unsere Einrichtung Schaden nimmt, nur weil sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt ein Zauberspruch löst.“ Erst jetzt bemerkte er die Zauberstäbe, die aufgereiht an der Wand standen. Leicht beschämt stellte er seinen Runenstab in die Reihe, zwischen einen Yenja-Kampfstab und einen Fluxstab, der in unregelmässigen Abständen aufleuchtete.
Mantai eilte bereits mit schnellen Schritten dem Ende des Durchgangs entgegen, und er beeilte sich, ihm zu folgen. Als er den Torbogen durchschritt, öffnete sich vor ihm eine Halle von der Grösse eines Thronsaales, deren Decke durch sieben massive Pfeiler gestützt wurde. An jedem dieser Pfeiler brannten je drei Öllampen, die das, durch die gläserne Deckenkuppel einfallende Licht unterstützten, um die Halle halbwegs auszuleuchten. Trotzdem gab es dunkle Ecken, in denen sich ein ganzer Trupp Zauberer verbergen konnte. Das Zentrum der Halle bildete eine grosse ovale Tafel aus fast schwarzem Holz, um die herum in gleichmässigen Abständen Stühle standen, deren Rückenlehnen darin sitzende Personen weit überragen würden und die oben in stilvoll ausgeführten Drachenköpfen endeten. Auf den ersten Blick schätzte er deren Anzahl auf 40, aber besetzt war nur eine Handvoll von ihnen.
Während er sich dem Tisch näherte, erkannte er Naharee, die in ihrem Stuhl ziemlich verloren aussah. Seine Hand zuckte kurz, um ihr einen freundlichen Gruss zuzusenden, doch er unterdrückte den Reflex, da er merkte, dass sich inzwischen alle Augen auf ihn gerichtet hatten. Mantai umrundete den Tisch und setzte sich auf einen freien Stuhl am anderen Ende, und als ob das ein abgesprochenes Zeichen gewesen wäre, erhob sich im gleichen Moment eine andere Gestalt, die die Farbe Rot zu bevorzugen schien, jedenfalls war sie von Kopf bis Fuss in den unterschiedlichsten Rottönen gekleidet. Lächelnd und mit ausgestreckter Hand kam sie ihm entgegen.
„Herzlich willkommen bei Vanderons Bruderschaft, Randjir!“ Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und zuckte unmerklich zusammen, als er ihren festen Händedruck spürte. „Ich bin Klara, und ich habe die Aufgabe, Neulinge bei uns einzuführen.“ Ihr Lächeln gefiel ihm. Es zog ihre Mundwinkel fast auf Höhe der Nasenspitze, wurde ergänzt durch zwei Grübchen, und auch ihre blaugrauen Augen stimmten lächelnd mit ein. Randjir, der Unwiderstehliche… Er schätzte sie auf Anfang 40, wobei er wusste, dass er häufig mit seinen Schätzungen daneben lag.
„Das Wichtigste gleich am Anfang. Unsere beiden Grundsätze lauten: Tue alles, was in deiner Macht steht, um Currulum zum Sieg über Teraja zu verhelfen, und unterstütze deine Brüder und Schwestern, so lange es nicht dem ersten Grundsatz widerspricht. Ich denke, das ist nicht so schwer zu behalten, oder? Und traue dich ruhig, um Hilfe oder Rat zu fragen, auch wenn es dir manchmal noch so nichtig vorkommen mag.“
„Danke, ich werde versuchen, deinen Rat zu beherzigen.“
„Und nun zu dem, weswegen die meisten hier anwesend sind“, fuhr Klara sich umdrehend fort, „die Vorstellung des Inneren Zirkels, wie wir ihn scherzhaft nennen.“
Ein lautes künstliches Husten erklang.
„Keine Angst, Martimus, dich werde ich nicht vergessen. Unsere Anführerin Naharee hast du ja bereits kennengelernt.“ Er erwiderte das freundliche Lächeln der hutzeligen Magierin. „Also kommen wir direkt zu Thrakur. Er ist unser Meister der Münzen. In Arthoria gibt es kein Ding, dessen Preis er nicht kennt. Dabei kennt er in der Regel nicht nur den aktuellen Preis, sondern sein unglaubliches Zahlengedächtnis hat obendrein auch noch dessen zeitlichen Verlauf gespeichert. So findet er immer den richtigen Zeitpunkt, etwas mit grösstmöglichem Gewinn zu veräussern, und er weiss, wann es günstig ist, auf dem Markt zuzuschlagen. Sein Beutel ist immer randvoll mit Münzen gefüllt, so dass bei Bedarf auch wertvolle Dinge bei ihm als Pfand hinterlegt werden können.“
„Willkommen, Randjir.“ Thrakur sass kerzengerade in seinem Stuhl, gekleidet in grauem Hemd und passendem grauen Mantel, den ebenfalls grauen Hut bis zur Spitze akkurat aufgestellt und seine schlanken Finger vor sich auf dem Tisch übereinander gelegt. Er machte den Eindruck einer Puppe, so steif hielt er sich, nur seine Augen hinter der kleinen runden Brille unter den buschigen grauen Brauen huschten ständig umher, ohne jemals einen Punkt länger als den Bruchteil einer Sekunde zu fixieren. „ Wann immer du Gold benötigst, oder wenn du einen Gegenstand gefunden hast, über dessen Wert du dir nicht im Klaren bist, komm einfach zu mir.“ Bei diesen Worten lächelten seine schmalen Lippen, und seine Zungenspitze zuckte am Ende kurz zwischen ihnen hervor.
„Aber was wäre Thrakur ohne seine Schwester Sarnissa?“, fuhr Klara fort, wobei sie mit der offenen Hand in Richtung der Zauberin wies, die linker Hand des grau gewandeten Meisters der Münzen ihren Platz hatte. Sarnissa schien die Vorlieben ihres Bruders für die Farbe Grau nicht zu teilen: Sie trug einen schattig grünen Mantel über einem braunen Oberteil. Aber ihr Gesicht glich dem ihres Bruders wie ein Spiegelbild, nur dass ihre buschigen Brauen braun waren und ihre Augen nicht wieselgleich umherflitzen, sondern ihn neugierig hinter ihrer Brille musterten. Sie lächelte ihm zu. „Während ihr Bruder den Preis aller Dinge kennt, weiss Sarnissa um deren Nutzen. Bevor du also nun gleich zu Thrakur rennst und dein Hab und Gut vergoldest, solltest du vielleicht zunächst Sarnissa einen Blick darauf werfen lassen. Wer weiss, welches magische Kleinod du unwissentlich mit dir herumschleppst.“ Er glaubte zu erkennen, dass Thrakurs Lippen bei dieser Vorstellung seiner Schwester noch dünner wurden.
„Und da wir gerade von magischen Dingen sprechen, wären wir auch gleich bei Demino.“ Bei diesen Worten erhob sich der einzige Zauberer, der noch auf dieser Seite des Tisches sass, und verbeugte sich leicht. Er trug keinen Hut, der ansonsten bei der Verbeugung leicht von seiner glänzend polierten Glatze gerutscht wäre. Den Mangel an Haupthaar glich Demino durch wuchtige, schwarze Kotletten aus, die in einem abwärts geschwungenen Bogen direkt in seinen üppigen Schnurrbart übergingen. Als er wieder aufrecht stand, blitzten in seinem Gesicht zwei glasklare, hellblaue Augen auf. Seine Kleidung war auffallend luxuriös: Hose, Hemd und Mantel schienen aus einem samtig-seidenen Stoff zu sein, und sowohl Mantel als auch Hemd waren mit feinen Silberfäden durchzogen, die ihnen einen leichten glitzernden Schein verpassten. Seine schwarzen Stiefel glänzten, als wären sie soeben erst gewienert worden. Und an den Fingern beider Hände reihte sich Ring an Ring, besetzt mit den unterschiedlichsten Edelsteinen. „Wie unschwer zu erkennen ist, hat unser lieber Demino eine Schwäche für Edelsteine. Wobei er zu mehr in der Lage ist, als nur ihre schönsten Seiten hervorzubringen: Besitzt ein Stein auch nur einen Funken Macht, wird Demino in finden und nutzbar machen.“
„Zu Diensten.“ Diesmal deutete Demino die Verbeugung nur an, drehte sich wieder zurück, und setzte sich in einer geschmeidigen Bewegung.
„Der nächste in unsere Runde ist unser Winzer Marcus.“ Marcus war der einzige, der seinen Stuhl auszufüllen vermochte, und zwar nahtlos: Seine massige Gestalt presste sich in die Stuhllehnen, sein Mantel war beim Hineinsetzen auf halbem Weg hängen geblieben und spannte sich an seiner linken Seite. Von seinem Gesicht war ausser der imposanten Nase nicht viel zu erkennen, da ihm die lockigen braunen Haare bis über die Augen reichten, und die untere Gesichtshälfte war durch einen wild wuchernden Bart bedeckt, in dem sich nun die fleischigen Lippen zu einem gegrunzten Gruss öffneten. Und da der Mund nun einmal geöffnet war, war dies anscheinend die passende Gelegenheit, ihm etwas zuzuführen. Marcus hob den grossen silbernen Kelch, den er die ganze Zeit in der mächtigen Hand hielt, und trank einen tiefen Schluck. Zwei Tropfen verfehlten die Öffnung und verschwanden sogleich im Gestrüpp seines Bartes. „Marcus ist ein Meister im Herstellen von magischen Tränken und geistreichen Getränken. Bring ihm nur das passende Rezept und die dazugehörigen Zutaten, und du wirst im Handumdrehen das Gewünschte in Händen halten.“
„Es sei denn, es gelüstet ihn selbst unwiderstehlich nach dem Gebräu.“ Marcus schaute kurz hinüber zu Martimus, der in witzelndem Ton gesprochen hatte, grunzte wie zur Antwort und hob dann einfach seinen Kelch, um einen weiteren Schluck in seinen gewaltigen Körper verschwinden zu lassen.
„Kommen wir nun zu Grünbart.“ Grünbart trug keinen grünen Bart, eigentlich gar keinen Bart. Auf seinem Kinn zeigten sich nur vereinzelte weisse Stoppeln, die in der Farbe zu seinen lohweissen Haaren passten, die lang und strähnig unter seinem Hut hervorkamen. Sein Hut und sein Mantel waren schwarz und besetzt mit einer Vielzahl dunkelblauer Runen, wie er sie zuvor schon bei der Zeichnung Vanderons gesehen hatte, nur waren sie bei Grünbart eindeutig aufgenäht. „Grünbart ist, das wage ich mal zu behaupten, der grösste Schriftgelehrte Elterans.“
„Willkommen Randjir“, kam ein dünnes, krächzendes Stimmchen aus dem Alten.
„Er weiss immer Rat, und hat immer ein offenes Ohr für die Probleme der weniger belesenen Zauberer. Die Übersetzung alter Schriften ist seine Spezialität. Und wenn du ihn mal nicht finden kannst, sitzt er sehr wahrscheinlich in der magischen Bibliothek und übersetzt gerade das nächste uralte Werk.“
„Und damit ist die Reihe dann wohl endlich an mir.“ Mit diesen Worten erhob sich Mantai, der bisher eher gelangweilt neben Naharee gesessen hatte, und kam mit grossen Schritten auf ihn zu. „Willkommen in unser ehrwürdigen Gilde“, sagte er lächelnd, wobei seine Augen merkwürdig ausdruckslos blieben. Während er die Rechte zum Gruss reichte, ergriff er mit der Linken die Schulter des Neulings und drückte leicht zu. „Meinen Namen weisst du schon. Und meine Aufgabe in diesen Hallen ist, da wird dir jeder der hier anwesenden zustimmen, die wichtigste: Ich wache über die Einhaltung unserer ersten Regel. Wir wollen Currulum zum Sieg verhelfen. Alle anderen Ziele sind dem unterzuordnen.“ Dabei schaute Mantai ihm tief in die Augen, als versuche er die Gedanken dahinter zu ergründen. Nach einem endlosen Augenblick liess er Hand und Schulter wieder los und eilte am Tisch vorbei zu einer der Türen, die sich hinter den Pfeilern befanden.
„Okay“, fand Klara wieder Worte, „Mantai ist ausserdem noch der beste Kampfmagier dieser Gilde. Es gibt sicher nur wenige Monster in Arthoria und darüber hinaus, denen er noch nicht siegreich gegenüber stand.“
„Bleibe noch ich. Ich bin die Schmiedin der Gilde und nebenbei noch die Quartiermeisterin, Lagerverwalterin, Putzfrau und noch einiges mehr. Im Grunde erledige ich all die Dinge, ohne die ein Aufenthalt in unserem Haus über kurz oder lang nicht mehr möglich wäre.“
„Und nun zu unserem Überraschungsgast.“ Klara wandte sich Martimus zu. „Martimus, wie hast du eigentlich von dieser Zusammenkunft erfahren?“
„Ich war nur ganz zufällig in der Gegend.“ Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, und wenn ihn nicht alles täuschte, war da auch ein kurzer Augenkontakt mit Naharee. „Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass alle Honoratorien anwesend waren. Und da dachte ich mir: Martimus, vielleicht wird es interessant. Bleibe mal da und halt Augen und Ohren offen. Aber bisher sehe ich nur einen Zauberer, der noch etwas feucht hinter den Ohren ist. Und alle anderen kenne ich zur Genüge“ Martimus Gesichtsausdruck blieb spöttelnd, und er täuschte ein Gähnen vor.
„Martimus ist kein Mitglied in dieser Gilde, nicht mehr“, erklärte Klara. „Aber er ist ein gern gesehener Gast. Häufig bringt er Neuigkeiten mit, die etwas Leben in diese Hallen bringen. Und sind es keine Neuigkeiten, treibt ihn meist die Langeweile zu uns.“ Fragend drehte sie sich zu Naharee: „Habe ich irgendetwas vergessen?“
„Nein. Danke, Klara. Ich denke, damit ist der offizielle Teil beendet. Und, Randjir, von mir auch noch einmal ein herzliches Willkommen bei Vanderons Bruderschaft. Ich denke, du wirst dich bei uns wohlfühlen. Klara wird dir jetzt noch unsere Räumlichkeiten zeigen. Bis bald, und hoffentlich sieht man dich ab jetzt häufiger hier bei uns.“
„Also, dann zeige ich dir noch den Rest unserer bescheidenen Räumlichkeiten, Randjir. Folge mir, bitte.“ Zusammen umrundeten sie den grossen Tisch und steuerten auf die rückwärtige Wand zu, ungefähr in die Richtung, in die Mantai verschwunden war. „Hier befinden sich unsere Quartiere. Jeder Zauberer hat einen eigenen Raum, den nur er betreten kann. Die einzelnen Gildenmitglieder nutzen ihn je nach Vorliebe: Während einige dort fast den ganzen Tag verbringen, benutzen ihn andere nur als Lager, um nicht ständig Gefahr zu laufen, wertvolle Gegenstände zu verlieren. Wenn du einem anderen Mitglied Zugang zu deinem Quartier gewährst, kann er oder sie ab diesem Zeitpunkt ebenfalls jeder Zeit dort eintreten.“ Der Raum war enttäuschend. Licht fiel nur durch das milchige Glas eines kleinen, runden Fensters. Das Mobiliar bestand aus einer einfachen Pritsche, einem kleinen Tisch, auf dem eine Öllampe stand, einem simplen Holzstuhl und einem leeren Regal, das die gesamte rechte Wand einnahm. Wie konnte man hier „hausen“? Seine Enttäuschung musste in seinem Gesicht abzulesen gewesen sein. „Das ist nur die erste Ausstattung. Je länger du bei uns sein wirst, und je mehr Zeit du hier verbringst, umso behaglicher werden wir es einrichten – das verspreche ich dir. Und was die Grösse betrifft… Ich sag’s mal so: Wir befinden uns hier in einem magischen Gebäude, und die Gemäuer werden sich deinen Ansprüchen anpassen.“
„Jetzt zeige ich dir noch unser Lager.“ Sie wandte sich zur Seite und folgte der Wand, vorbei an einigen Türen, die seiner eigenen Quartiertür glichen. Nach vielleicht 20 Schritten erreichten sie einen niedrigen Torbogen, an den sich eine Treppe anschloss, die in die Tiefe führte. Am Fuss der Treppe erreichten sie einen hell erleuchteten Gang, von dem rechts und links in unregelmässigen Abständen kleinere Gänge abgingen. „Jeder kann sich hier frei bewegen. Du darfst dich ruhig auch alleine umsehen. Allerdings werden sich dir nur wenige Türen öffnen, was eine reine Vorsichtsmassnahme ist, da sich hinter einigen grosse Gefahren für einen so jungen Zauberer verbergen.“ Klara führte ihn in den ersten Seitengang, der leicht abschüssig war, sich dabei mit jedem Schritt erweiterte. Nach einer Kurve standen sie vor einer doppel-flügeligen, mit Metallbeschlägen verstärkten Tür. „Berühre sie. Mal sehen, ob sie dich hindurch lässt.“
Kaum hatte seine Hand das uralte Holz berührt, schwangen beide Flügel majestätisch nach innen. Seinem Blick offenbarte sich ein Raum, dessen Grösse er nicht abschätzen konnte. Regale standen Reihe an Reihe in einer endlosen Flucht. Und jedes einzelne Fach dieser Regale war vollgepackt mit den unterschiedlichsten magischen Gegenständen: Es gab Haufen von Ringen, Stäbe in den unterschiedlichsten Ausprägungen, Kräuter, Beeren, Rüstungen, kunstvoll gefertigte Dekorationsobjekte, Papier, beschrieben und unbeschrieben, Körperteile von Monstern und noch vieles mehr.
„Das ist unser Lager.“ Der Stolz in Klaras Stimme war nicht zu überhören. „Vanderons Bruderschaft ist die älteste Gilde Arthorias, und unzählige Zauberer haben dabei geholfen, diese einmalige Sammlung anzulegen“, sagte sie mit einem verklärten Ausdruck im Gesicht. Sie schritt einen Gang hinab. „Und das alles hier“, dabei hob sie die Arme, „steht allen Mitgliedern der Gilde zur Verfügung.“
Sein Blick erspähte einige Kristalle, die sorgfältig gestapelt waren. Als er näher trat, erkannte er, dass es sich um hunderte Manakristalle handelte. Er hob seine Hand, aber kurz bevor seine Finger die Kristalle erreichten, begann sich ein brennender Schmerz von seinen Fingerkuppen über seine Finger auszubreiten, als würde er in ein loderndes Feuer greifen. Hastig trat er zurück, und schüttelte die vermeintlich brennende Hand, um den Schmerz loszuwerden. Randjir, der Meisterdieb… Seine Finger waren unverletzt.
„Nun, es steht zwar allen zur Verfügung, aber nicht jeder kann sich hier selbst bedienen.“ Schon wieder dieser stolze Ton. Klara trat an ihm vorbei und nahm sich einen der Manakristalle. „Wenn du etwas aus dem Lager brauchst, wendest du dich an eine Person des inneren Zirkels. Derjenige wird dann beurteilen, ob du des Gegenstandes wirklich bedarfst und ob die Herausgabe angemessen ist. Sollte dem so sein, wird er dir den Gegenstand aushändigen.“ Damit überreichte sie ihm den Kristall. „Nimm dies als unser Willkommensgeschenk.“
Als sie die Treppe zur grossen Halle wieder empor stiegen, dröhnte ihnen ein lautes Schnarchen entgegen. Alle Zauberer waren gegangen, nur Marcus hockte noch an seinem Platz. Den Kelch hielt er inzwischen mit beiden Pranken vor seinem Bauch, der sich im Rhythmus seines Schnarchens hob und senkte. Klara schritt voran und blieb dann vor seinem Quartier stehen.
„Wir sind zwar die älteste Gilde Arthorias, aber nicht die grösste. Mit dir sind wir momentan 21 Mitglieder. Du wirst sie nach und nach hier treffen und kennenlernen. Mich kannst du fast zu jeder Tag- und Nachtzeit hier antreffen, scheue dich nicht, an meine Tür zu klopfen.“ Sie zeigte auf eine Tür aus rotem Holz. „Wenn du etwas von jemand anderem brauchst, den du schon ein paar Tage nicht gesehen hast, sag es mir, dann werde ich ein Treffen arrangieren. Noch irgendwelche Fragen?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Gut. Schön, dass du bei uns bist.“ Sie umarmte ihn etwas steif, und verliess ihn in Richtung rote Tür.
Einige Augenblicke verstrichen, in denen nur Marcus‘ Schnarchen zu hören war, das das leise Zischen der Öllampen übertönte, dann machte er sich auf den Weg in Richtung Ausgang. Hier würde nichts mehr passieren. In dem dunklen Durchgang fand er ohne Probleme seinen Stab und sah, dass immer noch vier weitere Stäbe dort standen. Wie bei seinem Eintritt vor ein oder zwei Stunden schwang die riesige Tür ächzend vor ihm auf, und er trat hinaus ins Licht. Seine Hand suchte in seiner Tasche das wertvolle Geschenk, und die Kühle, die der Manakristall aussandte, beruhigte seine Gedanken. Langsam schlendernd näherte er sich dem Ende der Strasse, wo er stehen blieb und sich noch ein letztes Mal umsah. Trotz der strahlenden Mittagsonne konnte er die blitzenden Augen Vanderons erkennen, die ihm mit ihrem Blick zu folgen schienen.