Die beiden blieben lange fort. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre irgendwann doch aufgestanden und hinaus gegangen, doch was hätte ich schon tun können? Erstens wollte ich meinen kleinen Bruder, der mittlerweile eingeschlafen war, nicht allein lassen. Und zweitens würde ich ganz gewiss niemals mehr freiwillig noch einmal diesem Omni-Ding gegenübertreten. Doch nicht allein dieses bereitete mir Sorgen, während ich am Feuer wach lag und grübelte. Konnten wir eigentlich diesem Magier, einem Magier der Dunkelheit wohlgemerkt, vertrauen? Vielleicht war er gar nicht in die Bibliothek zurückgekehrt, sondern hatte meine Schwester entführt, und allein die Götter wussten, wohin? Ich versuchte, mir vernünftig klar zu machen, dass er meinen kleinen Bruder und mich zu diesem Zweck nicht erst hätte retten und hierher bringen müssen, doch Angst ist ein schlechter Ratgeber und stärker als jede Vernunft.
Als ich mich kurz davor wähnte, den Verstand zu verlieren, vernahm ich näher kommende Schritte und leises Lachen, und dann waren sie da: Meine Schwester und der Magier, wohlbehalten und schwer bepackt mit unseren drei Rucksäcken.
„Endlich“, brachte ich vorwurfsvoll hervor. „Wo wart ihr so lange?“
„Hast du dir Sorgen gemacht? Das tut mir Leid“, entschuldigte sich der Magier.
„Es war meine Schuld“, nahm meine Schwester ihn in Schutz. „Er wollte sofort umkehren, aber ich wollte ihn unbedingt noch einmal kämpfen sehen. Und dieses Mal hat er seine magische Buchseite bekommen. Das Omnikron ist vollkommen harmlos, wenn man weiß, wie man es zu bekämpfen hat.“
„Langsam, junge Dame!“ Der Magier musste lachen. „Es ist alles andere als harmlos. Und selbst wenn man alle nötigen Zauber beherrscht und gut ausgerüstet ist, kann es einen unter Umständen noch ernsthaft verletzen. Ich habe schlichtweg Glück gehabt.“
„Ihr habt meisterhaft gezaubert.“ Ihre Augen strahlten.
Übergangslos wurde der Magier ernst. „Du erinnerst mich an den kleinen Jungen, der ich einst war“, sagte er. „Als mir die Magie zum ersten Mal begegnete, war ich genau so beeindruckt wie du es jetzt bist, und der Magier, den ich beobachtet hatte, tat das Seine dazu und schilderte mir das Dasein eines Magiers in Elteran in den leuchtendsten Farben. Ich glaubte, fälschlicherweise, wie ich heute weiß, wenn ich ein Magier wäre, müsste ich nichts und niemanden im Leben mehr fürchten. Ich habe von dieser Stunde an alles daran gesetzt, in die Hauptstadt zu gehen und selbst ein solcher Magier zu werden.“
„Und ihr habt es geschafft“, stellte meine Schwester fest. „Habt Ihr es etwa bereut?“
„Nein.“ Die Antwort kam spontan und aufrichtig. „Und doch solltest du wissen, die Magie besteht nicht nur darin, umherzuziehen, verzauberte Bücher unschädlich zu machen und dabei reiche Beute einzustreichen. Bevor man dazu in der Lage ist, muss man sehr viel lernen: Die alten Sprachen studieren, sich sehr viel Wissen über Kräuterkunde aneignen, Elixiere und Tränke aus Zutaten herstellen, die man auf ausgedehnten Wanderungen sammelt, langwierige Forschungen absolvieren…“
„Aber die Zauber, die Ihr gewirkt habt“, unterbrach ihn meine Schwester, „die habt Ihr doch ebenfalls gelernt!“
„Gewiss. Je mehr Wissen man ansammelt, umso stärker werden die Zauber. Aber um sie zu üben und um neue zu erlangen, muss man … lebende Wesen bekämpfen. Die meisten nennen sie „Monster“, aber sie sind lebendig wie du und ich, und sie leben gerne, doch wir Magier greifen sie an, und wir müssen sie töten, um unsere Macht zu mehren. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, welch hohen Preis ein Magier für seine Macht zu entrichten hat. Ich jedoch finde, dessen sollte sich jeder angehende Magier bewusst sein, bevor er sich auf seine Ausbildung einlässt.“
Wir schwiegen nachdenklich. Der Wind pfiff draußen noch immer um die Gemäuer, und es war spürbar kälter geworden, denn das Feuer war mittlerweile herunter gebrannt. Amarok legte Holz nach, das er wohl während ich ohnmächtig gewesen war, gesammelt haben musste. Mit einer kaum merklichen Handbewegung ließ er es auflodern. „Auch das ist Magie“, sagte er leise. „Magie ist faszinierend, zuweilen gefährlich, oft nützlich und hin und wieder lebensrettend. Heute Nacht war ich dankbar für meine Kampfzauber.“
„Ich auch“, seufzte ich aus vollem Herzen, und nun lächelte er wieder und griff nach der Papyrusrolle, die meine Schwester mir bereits gezeigt hatte.
„Wir haben noch einen Grund, dem Omnikron, oder den Göttern, dankbar zu sein“, meinte er und entrollte sie. „Seht her: Dies ist eine Spruchrolle, mit der man den Zauber „Heimkehr“ wirken kann. Für gewöhnlich bringt mich dieser Zauber nach Hause in mein Anwesen in Elteran. Wir könnten versuchen, damit in euer Zuhause zu gelangen.“
„Wie kann man mit einem Stück Papier zaubern?“, fragte ich entgeistert, und meine Schwester wollte wissen:
„Was geschieht, wenn der Zauber gewirkt wird?“
„Die Worte darauf sind in der Alten Sprache und mit magischer Tinte geschrieben“, erklärte Amarok. „Wie der Zauber genau vonstatten geht, weiß niemand so genau, aber dass er gelingt, steht fest. Wenn der Zauber glückt, was leider, wie ich zugeben muss, nicht immer der Fall ist, befindet man sich in einem Augenblick noch dort, wo man den Zauber wirkt, und im nächsten bereits dort, wo derjenige, der ihn wirkt, zu Hause ist.“
„Aber keiner von uns ist ein Magier!“, wandte ich ein. „ Und wenn Ihr den Zauber wirkt, gelangen wir alle nach Elteran.“
„Richtig“, bestätigte er. „Und deshalb wird einer von euch den Zauber wirken. Ich lehre euch den Wortlaut. Wenn er misslingt, marschieren wir, sobald der Morgen dämmert, gemeinsam nach Waldmühlweiler. Wenn er aber glückt, seid ihr noch heute Nacht zurück bei eurer Familie.“
„Und Ihr?“
„Ich bleibe hier beim Feuer bis morgen früh und laufe dann zurück nach Elteran.“
Ich ertappte mich dabei zu wünschen, der Zauber würde misslingen, denn mittlerweile fand ich die Gesellschaft des freundlichen jungen Magiers sehr angenehm. Überdies wäre es nur anständig gewesen, ihn zum Dank für unsere Rettung zum Mittwinterfest einzuladen. Auf der anderen Seite… Wenn wir jetzt nach Hause kämen, müssten wir Mutter nicht gestehen, dass wir uns verlaufen hatten und in Jedar, der verbotenen Stadt gewesen waren. Wir könnten einfach so tun, als hätten wir aufgrund des Schneesturms und der beschwerlichen Wegverhältnisse ein wenig länger als gewöhnlich für den Heimweg gebraucht.
„Gut“, sagte ich und griff zaghaft nach der Spruchrolle. „Was muss ich tun?“
„Schultert eure Rucksäcke, und du nimm deinen kleinen Bruder auf den Arm“, sagte Amarok, indem er meiner Schwester die Spruchrolle aushändigte. „Ich sehe hier jemanden, der unbedingt wenigstens einmal im Leben zaubern möchte, habe ich Recht?“
Mit leuchtenden Augen nahm meine Schwester die Rolle entgegen und nickte ernsthaft.
Ich schälte mich aus der Decke, hängte mir den schwersten Rucksack über und hob behutsam meinen kleinen Bruder auf. Meine Schwester zog sich den zweiten Rucksack über und hängte sich den dritten an den Arm. Danach blickte sie erwartungsvoll zu dem Magier hin.
„Ihr müsst einander berühren, wenn der Zauber gewirkt wird. Seid ihr bereit?“
Meine Schwester nickte, aber ich schüttelte den Kopf. „Wartet! Ich möchte Euch nochmals danken. Können wir Euch Eure Hilfe nicht irgendwie vergelten?“
„Lassen wir es darauf ankommen“, sagte Amarok schmunzelnd. „Wenn euer Zauber misslingt, bin ich euer Gast beim Mittwintermahl. Gelingt er aber, so ist es der Wille der Götter, und wir behalten einander in guter Erinnerung. Ich wünsche euch viel Glück. Mögen Heraios, Curulum und Teraja eure Wege behüten.“
„Und die euren“, antworteten meine Schwester und ich einstimmig, und sie fügte hinzu: „Eines Tages suche ich Euch in Elteran auf, wenn ich mich für die Magie entscheide.“
„Das würde mich freuen“, erwiderte er. „Aber versprich mir, dass du dir das gut überlegst und nicht vergisst, worüber wir heute Nacht gesprochen haben.“
„Ich verspreche es.“
„Gut so. Dann pass auf. Nimm die Rolle.“
Sie tat wie geheißen.
„Und nun nenne ich dir das Wort in der Alten Sprach für ‚Heimkehr‘. Lebt wohl, ihr drei.
„Lebt wohl, Amarok.“
Wir fassten einander, so gut es ging mit unserer Last bei den Händen, und meine Schwester sprach das fremdartig klingende Wort feierlich nach.
„Du meine Güte, das wurde aber auch Zeit! Wo wart ihr bloß so lange? Kommt rein, zieht die nassen Sachen aus und wärmt euch auf!“ Unsere Großmutter breitete die Arme aus, herzte uns, einen nach dem anderen, und zog uns in die behagliche Küche, in der es nach Braten und süßem Gebäck duftete.
Benommen ließ ich ihre Zärtlichkeit über mich ergehen. Ich stand doch eben noch in den Mauern einer der Ruinen von Jedar am Feuer!
Meine Schwester drehte verwirrt ihre leeren Hände und suchte nach der Spruchrolle, die jedoch offensichtlich verschwunden war.
Ohne uns miteinander abgesprochen zu haben, waren wir uns einig, dass wir vorläufig über die merkwürdigen Erlebnisse dieser Nacht schweigen würden. „Das Gehen war ziemlich mühsam bei dem Sturm“, sagte ich nur, und meine Schwester fragte:
„Wo ist Mutter?“
„Nebenan“, sagte Großmutter lächelnd. „Euer Vater ist bei ihr, und noch jemand. Wenn ihr euch ausgezogen und die Hände gewaschen habt, dürft ihr zu ihr.
Ich verstand gar nichts, aber über das Gesicht meiner Schwester ging ein breites Grinsen. „Das Baby!“, rief sie begeistert.
Mittlerweile regte sich auch unser kleiner Bruder und blickte verwundert um sich. „Wo ist Drass?“, murmelte er weinerlich, nachdem meine Schwester ihn abgesetzt hatte.
„Du hast geträumt“, sagte ich liebevoll und half ihm aus seinen dicken Kleidern.
Er schüttelte den Kopf, doch sagte nichts weiter.
Kurz darauf betraten wir Seite an Seite das Zimmer nebenan. Mutter lag, von dicken Kissen gestützt, auf ihrem Bett, mein Vater saß neben ihr und hatte fürsorglich den Arm um sie gelegt. In ihren Armen lag ein winziges Bündel mit rosiger Haut und einem wirren schwarzen Haarschopf. Es hielt die Augen geschlossen und gab leise, zufriedene Schmatzlaute von sich. Auf Zehenspitzen wagten wir uns näher.
„Kommt nur und begrüßt euren gesunden, kleinen Bruder“, sagte Vater, und Mutter lächelte uns glücklich an. „Er hatte es ziemlich eilig. Offenbar möchte er unbedingt mit uns Mittwinter feiern.“
Wir beugten uns über ihn und bewunderten das kleine Gesichtchen und die winzigen Fingerchen.
„Wie wird er heißen?“ fragte ich.
Mutter lachte leise. „Wir hatten uns nur über Mädchennamen Gedanken gemacht“, antwortete sie. „Vielleicht habt ihr ja eine Idee?“
Meine Schwester und ich blickten uns an, sie nickte, und ich sprach es aus: „Amarok. Wie wäre es mit Amarok?“
„Das ist ein ungewöhnlicher Name“, gab Vater zu bedenken.
„Mir gefällt er“, sagte Mutter.
Und so kam es, dass wir das Mittwinterfest doch gemeinsam mit Amarok begingen, während der Namensgeber unseres kleinsten Bruders im fernen Jedar in eine feuchte, etwas streng riechende Decke gewickelt an einem mit Magie entfachten Feuer ruhte.
Dezember2018