Des nachts hinter verschlossenen Toren

Begonnen von Urumil, 20. Dezember 2008, 16:24:32

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Urumil

Der Dienstjunge stand in eisigem Wind vor den Toren der Bücherei. Es war Nacht.
Durch die Gassen ging ein Raunen, es knarzte eine Tür, eine Stimme wurde laut, Licht ging an und wieder aus, wieder raunte der Wind und ließ das dunkle Haar des Dienstjungen wehen, der den Namen Varnhagen bekommen hatte.
Er fragte sich, was denn sein Meister in der Bibliothek tat. Langsam ärgerte es ihn.

Als er jedoch in die Tasche griff und kühle Goldstücke, derer an der Zahl er 300 besaß, hörte er auf nachzudenken und stand weiter Wache.

Unter einem Rundbogen an der Wand sitzend dachte Urumil gerade an seinen Diesntjungen, der draußen auf der Straße stand.
Ohne weiter zu sinnieren griff er nach einem gigantischen Wälzer, legte ihn auf seine Beine und atmete aus.
Das Buch war unglaublich schwer. Mit Mühe hob er den Buchdeckel an und kippte ihn herum.
Ihm eröffnete sich ein altes Pergament, das bebildert und beschrieben war.
Alte Zeichen rankten sich ineinander, merkwürdige Wesen krochen und sprangen umher.

Urumil begann zu lesen.

Urumil

Vor langen Jahren, vielen Zyklen und hunderten Tagen, zu Zeiten vor den Kriegen des Sadek, gehörte Tenar, Stadt der tausend Gläser, noch zu den reichsten Festungen in unseren Landen. Ihre Mauern waren stark und hoch, und ihre Bürger waren glücklich.

Dies ist die Erzählung ihres Untergangs, verfasst von Phandarel, Nimphalamirs Sohn und Statthalter von Lokay.


"Verheißungsvoll!", flüsterte Urumil und las weiter.

Kapitel 1 - Der Preister und sein Wahn

Es war ein schöner Tag zu diesen Zeiten. Man sagte, es sei der 3745. Zyklus gewesen, aber andere, wie etwa Orlin der Zweite, meinen, es sei ein noch viel früherer. Ungeachtet dieser Flegel pflege ich zu sagen, dass dieser 3745. Zyklus den Untergang Tenars beherbergte.
In Tenar herrschate Aufruhr in dieser Zeit - Kalon der Siebte war abgesetzt worden und nun herrschte Gemarzil, en unbekannter Landherr aus der Wüste. Man meinte, sein demokratisches Denken würde dieser Stadt den Untergang bringen. Gleichwohl sein Handeln nichts mit dem Untergang der Stadt zu tun hatte - sie ging unter.
Gemarzil hatte die Wachen von dreitausend Mann auf stumpfe eintausendfünfhundert begrenzen lassen - und die neuen eintausendfünfhundert Männer arbeiteten in den Minen außerhalb, was ihnen durchaus recht kam.
Den alten Bürgern und Provinzherren gefiel das gar nicht. Sie sagten, er sei wie einer dieser Neu-Magier - ungestüm und auf der Suche nach Abenteuern.
Doch die Arbeit der ehemaligen Wache machte sich bezahlt - bald konnte man die Mauer verstärken und mehrere neue Mithrilkatapulte aufbauen. Gleichwohl Tenar nun mehr in der Sonne glänzte und die riesigen brennenden Pechklumpen schneller, härter und weiter schleudern konnte - es ging unter.
Man sagte den Priestern nach, sie könnten in die Zukunft sehen. Gemarzil, der sehr abergläubisch war, suchte dann und wann das noch kümmerliche Tempeldistrikt auf und lies die Priester seine Göttin Teraja befragen. Meistens waren es simple Fragen - ob man lieber den Hang zum Gebirge besser bemauern sollte, oder ob nicht doch die nordwestlichen Lücken geschlossen werden sollten, weil zeitweise kleine Horden von Goblins aus ihrem Wald krochen.
Meistens wurde Gemarzil zufrieden gestellt, weil die Priester im verkündeten, was sein inneres Ohr schon lange hatte hören wollen.
Doch am zweiundzwanzigsten Tag des 3745. Zyklus verrieten ihm die Priester nicht das, was er erwartete.
"Teraja, erhöre mich, meine Mutter, die mich nähret in schlechten Stunden! Teraja, meine Göttin, kann ich die Handelswege ins Gebirge öffnen?"
Und der Priester, der festgekettet oben auf dem Altar lag, völlig nackt, begann zu zucken und sich zu verkrampfen, er röchelte und schrie, spuckte und zitterte.
"Nein! Nein! Nein! Gemarzil, du Sohn des Curulum, Nein! Was wagst du, Nein! Sie werden kommen, Nein! Sie werden dich töten, Nein! Gemarzil, Nein! Was wagst du! Wie kannst du! Nein!".

Gemarzil verließ den Tempel wütend und ließ ihn niederbrennen.
Drei Tage später ließ er sich zu Curulum konvertieren.
Vier Tage später kamen sie.


"Oh!", sagte Urumil.

Urumil

Kapitel 2 - Die Zwillinge

Am selben Tag, an dem Gemarzil sich Curulum hingegeben hatte, hatten Varnhagen und Nimphalamir, zwei Brüder, die sich glichen, wie eine Beere der anderen, sich kurzzeitig von ihrer Goblinjagd losgesagt und entschieden, in Tenar einige Dinge aus ihren Beuteln zu verkaufen, unter anderem Kräuter und einige kleinere Edelsteine.

Nun, um dem Leser einen besseren Einblick zu gewähren, werde ich erklären, wer die beiden waren.
Nimphalamir war ein junger Krieger. Seine Talente beschränkten sich auf Schwert und Schild und die Fähigkeit, jeden in Grund und Boden zu argumentieren. Nimphalamir hatte an der Universität zu Elteran studiert. Niemand hatte zu diesen Zeiten von dieser Stadt gehört, und so erntete Nimphalamir wundersame Blicke, wenn er begann, sein Wissen preiszugeben, das er von dort mitbrachte. Man könnte sagen, Nimphalamir half mit seinen Reden und Lesungen in Lokay, Aran und Tenar der heutigen Hauptstadt Arthorias, ein wenig zu wachsen. Nach den Vorfällen in Tenar führte er sogar mehrere große Karawanen aus Menschen in seine Heimatstadt.

Varnhagen war das ganze Gegenteil seines prügelnden und doch intelligenten Bruders Nimphalamir. Er war still und kämpfte ungern mit Schwert und Schild, man könnte sagen, er war Pazifist.


Urumil musste grinsen.

Urumil

Kapitel 3 - Der Tag des Untergangs

Nun war es an den Zwillingen in die Stadt zu gelangen. Was ich bis jetzt unterschlagen hatte, ist der Fakt, dass unser Varnhagen der geliebte Neffe unseres Gemarzils war.
Nun wusste Varnhagen nicht, dass sein Onkel kürzlich die Herrschaft Tenars übernommen hatte, und Gemarzil wusste nicht, dass Varnhagen und sein Bruder Tenar besuchen wollten.

So kam es also, dass Nimphalamir und Varnhagen vor den Toren der Stadt standen, und sich mit den Wachen um ein jahrelang nicht benutztes und vergilbtes Familienzertifikat - damit bestätigte man zu dieser Zeit die Zugehörigkeit zu den oberen zehntausend - das die Wachen nicht annehmen wollten.

Gemarzil wurde über die hysterischen, sich wie eine Beere der anderen gleichenden jungen Männer unterrichtet und kam an diesem Morgen unverhofft höchstpersönlich zur Stadtmauer um sich die angeblichen Ruhestörer zu besehen und sie bei Not der Stunde hinfortzuschicken.

Doch unser neuer Herrscher war reichlich überrascht, als er den Sohn seiner Schwester, Amudina, vorm Tor stehen und den Kopf nach oben recken sah.

"Was tust du hier?", fragte er.
"Nein, was tut Ihr hier?", fragte Varnhagen.
"Nein, was tust du denn hier?", fragte Gemarzil.
"Nein, was tust DU denn hier?", fragte Varnhagen.
"Ich bin Statthalter, nein, was TUST du denn hier?", sagte Gemarzil.
"Ich bin Reisender und will Einlass, nein, du bist Statthalter?", sagte Varnhagen.
"Oh, dann soll es Euch gewährt werden, Reisender!", sagte Gemarzil, bat die Wache, das Tor zu öffnen, und warf sie danach eigenhändig über die Mauer.

Urumil

Urumil rieb sich die Augen.
"Curulum steh mir bei. Die Sonne ist nicht einmal eine Stunde hinter den Wassern, da werd' ich schon müde!"
Er gähnte langgezogen und gemütlich, holte eine Pfeife heraus und rauchte aufputschendes Tairanpulver.
Während er paffte, las er weiter, vom Besuch der Zwillinge in der Stadt. Er sah die großartigen Illustrationen, die die Geschichte mehr füllten, als der eigentliche Text.

Und so hatten Varnhagen und Nimphalamir nun Tenar gesehen. Gemarzil bestellte ihnen ein paar Haremsfrauen.
Varnhagen lehnte ab, aber Nimphalamir bat die Diener, ein Zimmer mit Seidenbett für ihn und seine Schönheiten bereit zu halten.
Es wurde abend. Die Wachen wechselten die Schicht. Überall auf den Mauern standen nun die vom Tag geschlagenen Männer, die von Sonnenaufgang bis zum Zenit und weiter exerziert hatten, marschiert waren und sich von ihrem Hauptmann hatten schikanieren lassen.
Gemarzil saß mit seinen schlangenzüngigen Beratern im Rathaus und besprach, wie genau man die Handelswege ins Gebirge öffnen sollte.

Urumil

Gerade setzte der alte Berater Mangulin, der Vierte, Sohn des dritten Mangulin, ebenfalls Berater, zum Sprechen an, als eine Wache auf der südlichen Mauer das Horn blies.

"Ach, können diese Raufbolde es denn nie bei der Nacht belassen? Müssen sie so laut sein? Was wollen sie denn? Dass der König ihnen die Füße küsst?", und er grummelte weiter.

Gemarzil legte seine Tagesrobe über den Nachtmantel und ließ die Sänftenträger rufen.
Wenige Minuten später, siebenundzwanzig, stand Gemarzil auf der Mauer und starrte ungläubig in ein Fernglas. Was er sah, überstieg seine Vorstellungen. Ein ganzer Berghang war voller Kreaturen: Gobeline, Gargoyles, Baumriesen, fliegende Steinbeißer und andere, die man noch nie an der Erdoberfläche gesehen hatte.

Urumil

Urumil holte eine Flasche Wein heraus, zog den Korken mit den Zähnen heraus und leerte die Flasche in unterbrochenen Zügen, zwischen denen er einen tiefen Zug aus der Pfeife nahm.

Als die Flasche leer war, las er weiter.

Gemarzil ließ alle Wachen am Südende zusammenkommen und schickte drei Boten und vier Sänftenträger zu den Minen gehen, um alle Arbeiter zu warnen und sie in die Stadt zu holen.
Der Mineneingang lag etwa zweihundert Fuß unter der gigantischen Meute aus Kreaturen.

Die Männer hatten es fast geschafft, als ein stattliches Exemplar eines Gargoyle-Männchens au sie aufmerksam wurde. Es trennte sich aus der Menge, hob die Schwingen und war mit einem Schlag der "großen Segel", wie sie unter Jägern genannt wurden, bei ihnen.

Der Gargoyle begrub seine Opfer unter seinen Flügeln und machte von seinen Klauen Gebrauch.
Glücklicherweise konnte man nichts verstehen, bei dem Lärm, den die Kehle des Gargoyles machte.

Nachdem das fliegende Ungeheuer mit seinen Opfern "fertig" war, hob es den Kopf und entdeckte Tenars Südflanke.

Gemarzil schickte nach der Garde und seinen Neffen.

Urumil

Ein Rumpeln unterbrach Urumil.

Dann stieß ein schmaler Lichtschein mit brutaler Kraft ins Innere der Bibliothek. Urumil saß wenige Meter entfernt davon. Langsam vergrößerte sich der Spalt und das Licht einer Colitfackel strahlte in den Raum.

"Wir haben den Jungen!", schrie eine Wache.

Urumil gefror das Blut in den Adern. Ohne zu Atmen raufte er alles zusammen, was er dabei hatte: den Stab, den Mantel, das große Buch, das er unbedingt bis zum Ende hin lesen musste, die Pfeife und die Flasche Wein.
Mit all diesem Plunder unter den Armen lief er mehr schlecht als recht weiter hinein in die Eingeweide dieser Bibliothek. Er hätte so gerne in all den Werken über die Alchemie und Sagenwelt Arthorias gelesen, aber dummerweise jagte in Elterans sonst doch so für Trägheit bekannte Wache, weil er hier eingebrochen war.
Und sie hatten den Jungen.
Ohne sich Gedanken zu machen, wie alt die Fenster eines dreihundert Jahre alten Gebäudes wohl sein mochten, sprengte er eines der bunten Bleiglasfenster mit einem Inferno-Zauber auf, warf seine Sachen hinauf und war sich dann mit dem Rückstoß eines magischen Pfeils selbst hinauf, entglitt durch das Fenster und landete auf der anderen Seite der Mauer unsanft auf seinem Plunder.
Etwas nasses verührte sein Gesicht. Die Nässe schmeckte nach Wein.
Er durchwühlte seine Sachen und erkannte die halbleere Flasche.
"Oh, ich Tor! Wo bleibt mein Ordnungssinn, wenn die Wachen hinter mir her sind?" Er warf die Flasche weg, krallte sich seinen Plunder und rannte los. Wachen waren ihm durch das Fenster gefolgt und waren dicht hinter ihm.
Urumil flüchtete hechelnd in einige Seitengassen, rannte hierhin und dorthin, warf den Männern hinter ihm immer wieder Rauchkugeln entgegen und versuchte in der Nacht zu verschwinden.
"Ha!", dachte er sich, "Wenn sie hinter einem die Nacht mit einer Colitfackel zum Tage machen, kann ich mich schlecht darin verstecken!"

Plötzlich befand er sich auf dem Marktplatz. Am Brunnen vorbei huschte Urumil in eine Seitengasse.
Vor ihm blitzte es hell auf. Urumil duckte sich weg und rollte in den Staub. Als er aufsah, erkannte er Samsas Traum aus seiner Gilde. Dann sah er zu den Wachen. Sie hatten mit mehreren Feuerbällen zu tun.
"Komm nun, sonst darfst du dich Ushkander entgegenstellen!"

Innerhalb weniger Minuten waren sie im Anwesen der Namenlosen. Urumil kniete in seinem Plunder und sein Freund, Samsas Traum, stand vor ihm.

"Was hast du nur angestellt? Jetzt haben diese Wachen unseren Dienstjungen. Wir werden ihn befreien, heute noch!"
Urumil nickte und ordnete sein "Gepäck".
"Ich hole etwas Wein und Brot!", sagte sein Erretter und verschwand.

Urumil erinnerte sich an die Flasche Wein.
Sicher hatten die Wachen den Korken entdeckt, den Urumil in die Regale gespuckt hatte.

Auf den Korken war ein großes N gebrannt, das Markenzeichen seiner Gilde. Urumil resignierte.